Ihr kennt das bestimmt alle, ihr hört eine Melodie – oft eine sehr nervige – und bekommt sie für die nächsten Stunden nicht mehr aus eurem Kopf heraus. Ihr habt euch einen Ohrwurm eingefangen.
Ich kenne das nicht. Ich habe noch nie einen Ohrwurm gehabt. Melodien setzten sich nicht in meinem Kopf fest – und um ehrlich zu sein, ich nehme unterschiedliche Melodien auch nicht 100% als unterschiedlich wahr. Das liegt daran, dass ich kongenitale (angeborene) Amusie habe.
Amusie ist das musikalische Pendant zur Farbenblindheit und wird dementsprechend auch Musiktaubheit genannt. Es gibt sie in etlichen Ausprägungen und stärken. Sie reicht von reiner Notenblindheit bis hin zur völligen Unfähigkeit Musik als solche wahrzunehmen. Ich kann Rhythmus nicht genau wahrnehmen und auch nicht in Bewegung umsetzten. Ebenso kann ich Melodien kaum voneinander unterscheiden. Ein kurz angespieltes Musikstück erkenne ich nicht unbedingt wieder und bei zwei vermeintlich gleichen Melodien kann ich nur raten ob sie gleich oder nur ähnlich sind. Ich kann glücklicherweise Musik von anderen Geräuschen unterscheiden (was die ganz schlimmen Fälle von Amusie nicht können). Ich kann keine Melodien treffend wiedergeben.
Musik bereitet mir keine Freude und löst bei mir keine Emotion aus. Meist langweilt es mich aber oft ist es nur anstrengend für mich. Es ist einfach Lärm. Ich fand schon als Kind die Muppetshow so was von langweilig weil dauernd gesungen wurde.
Es ist nicht so, dass ich keine Musik höre, ich bin mit Musik aufgewachsen und sie gehört zu unserer Kultur. Aber es ist eher eine Gewohnheit als ein Genuss oder der Wunsch Musik zu geniessen. Auch Tanzen macht mir keine wirkliche Freude. Erstens höre ich den Rhythmus nie heraus und zweitens erschliesst sich mir der Sinn dabei nicht wirklich.
In meinem Leben spielt Amusie keine Rolle – außer das mich die dauernde Musikbeschallung genauso nervt wie sehr musikalische Menschen. Aber während der Schulzeit war es schon extrem beastend. Der Musikunterricht war für mich die Hölle auf Erden, ich konnte nie sagen ob ein Stück Dur oder Moll war und ob da nun Bratsche, Violine oder Viola drin vorkamen. Und welcher Takt? Keine Ahnung. Ich hätte fast eine 6 bekommen und hätte damit kein Abitur machen können.
Als Teenager hört man wie alle andere Teenager auch Musik. Dank Bravo und Gruppenzwang denkt man, dass muss man machen. Ich hab dann mit dem Punk-Rock und Metal bzw. Noise und Hardcore so meinen Bereich gefunden… Aber nie die melodischen Sachen, eher die simplen rauen und einfachen oder die ganz wirren mit Kreissägen, berstenden Stahl und Sirenen. Sachen die sich ein “normaler” Mensch eher nicht anhört. Bei Konzerten hab ich dann immer eher an der Bar gesessen und ein Bier getrunken als mich in den Pit zu begeben. Ich hab auch probiert selber Sänger zu werden, doch wer bei “Alle meine Entchen” nicht mal einen Ton trifft und beim Walzer aus dem Takt kommt, der ist nicht wirklich dafür geeignet. Nichtmal für den schlimmsten Punkrock.
Selbst im Auto höre ich kaum bis keine Musik – Radiogedudel hab ich noch nie gemocht, da hab ich dann lieber Inforadio gehört und alle 15 Minuten dieselben Nachrichten “genossen”. Aber Dank Podcasts muss ich das nicht mehr. Was für eine geniale Erfindung.
Amusie ist entweder angeboren (so wie bei mir) oder sie kann durch einen Unfall oder Schlaganfall ausgelöst werden. Sie muss auch nicht immer alle Bereiche betreffen, so kann man z.B. nur unfähig sein einen gehörten Rhythmus in Bewegung umzusetzen oder eine Melodie zu wiederzugeben.
Aber man kann genauso eine Melodie gar nicht erkennen oder nur schwer. Angeblich sollen bis zu 4% der Bevölkerung davon betroffen sein, wobei es auch hier erheblich Zweifel gibt, dass es wirklich so viele sind.
Auch ist noch nicht 100% geklärt ob Amusie auch Einfluss auf die Sprache hat. So ist eine Tonhöhensprache wie Chinesisch wohl für Menschen mit Amusie schwieriger zu erlernen (auch für Chinesen). Es gibt widersprüchliche Aussagen ob die sprachlichen Fähigkeiten eingeschränkt sind oder nicht bzw. es gibt wohl verschiedenste Ausprägungen.
Es gibt wahrscheinlich auch noch so ein paar Begleiterscheinungen zu Amusie, die sie an den Rand des Autismusspektrums bringen. So haben viele Menschen mit Amusie Probleme Mimiken und Emotionen richtig zu deuten. Ein ältere (und wie ich finde sehr abwertende) Bezeichnung ist daher auch Seelentaubheit. Auch kann das eigene emotionale Empfinden weniger ausgepr
ägt sein.
Auf einen anderen interessanten Aspekt bin ich auch noch gestoßen. Menschen mit Amusie sollen stärker zu Spiritualität neigen – weswegen ich das für mich wunderbar ablehnen kann, da es bei mir einfach nur pathologisch ist. Glaube und Spiritualität nur wegen ein paar unterschieden im Gehirnaufbau.
Wenn Du selber rausfinden möchtest ob Du Amusie hast, dann kannst du an der Uni Montreal einen Test machen. Wenn ich einmal nach Montreal komme, dann werde ich dort auch persönlich vorbeischauen. Das habe ich mit dem Institut schon vereinbart.
Wenn ihr jemanden kennt der Amusie hat oder selber davon betroffen seid, dann meldet euch doch bitte bei mir.
Hallo Marcel!
Ohne Musik kann ich nicht leben.
Nicht dass ich gut singen oder tanzen könnte aber ich brauche es um meinen Gefühlen eine Stimme zu geben.
Und um mich beim Bilder bearbeiten konzentrieren zu können. 😀
Wie das ohne Ohrwurm ist kann ich mir gar nicht vorstellen, ich hab ständig Musik und Bilder im Kopf und meistens summe oder singe ich auch vor mich hin. 😀
Bei mir hat man übrigens vor ein paar Jahren Dyskalkulie festgestellt.
Hat auch den schönen Namen Zahlenblindheit.
Und das trifft es auf den Punkt. 🙂
Leider hing da auch mein Schulerfolg davon ab.
GRAUENVOLL!
Mit so einer “Schwäche” ist man als Kind echt aufgeschmissen und hat auch Jahre später noch schwer unter den psychischen Folgen zu leiden.
Du hast mein vollstes Verständnis.
Liebe Grüße,
Stefanie
Hi Stefanie,
Dyskalkulie ist natürlich noch viel schlimmer in der Schule. Wenn einer in Musik schlecht ist, dann ist das gesellschaftlich natürlich viel akzeptierter als Zahlenblindheit. Ich hoffe, dass die Lehrer heute besser ausgebildet sind und mit solche kleinen Anomalien wie wir sie haben besser umgehen können.
Du schreibst, dass Du immer Bilder im Kopf hast, denkst Du dann auch eher in Bildern? Ich denke nämlich überhaupt nicht in Bildern,
lg
marcel
Davon hab ich noch nie gehört. Danke für die Aufklärung. Für mich klingt es schrecklich mit Musik und Tanzen nichts anfangen zu können. Wahrscheinlich weil ich beides sehr mag.
Das du wegen deiner Amusie fast kein Abi machen könntest finde ich erschreckend. Ich hoffe sehr, dass sich unser Schulsystem hier zum besseren ändert und individuelle Stärken fördert statt Schwächen zum Verhängnis werden zu lassen.
Freut mich, wenn ich wieder etwas zur Wissensbildung beitragen konnte.
Wenn Eltern wissen, dass ihre Kinder besondere Defizit/Begabungen haben (sei es Legasthenie, Dyskalkulie, Asperger / Hochbegabung / AD(H)S, etc…), dann dürften sie im Schulsystem einigermassen klar kommen. Nur viele Eltern wissen es nicht und viele Lehrer auch nicht. Dagegen hilft halt nur Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung…
Hi Marcel,
ich bin gerade durch den Artikel in der SZ auf Dich aufmerksam geworden. Ich arbeite an der Uni Düsseldorf (und Amsterdam) und untersuche seit einigen Jahren Amusie und den Bezug zu Sprache und habe hier auch einen Pool mit ca. 30 weiteren Amusikern.
Falls Du weitere Informationen möchtest, melde Dich einfach bei mir.
Viele Grüße
Jasmin Pfeifer